Systemische Psychotherapie – Grundlagen, Methoden und Wirksamkeit
Was kennzeichnet die systemische Psychotherapie?
Die systemische Psychotherapie ist ein wissenschaftlich fundiertes Richtlinienverfahren und seit 2019 (für Erwachsene) sowie seit 2024 auch für Kinder und Jugendliche Bestandteil der Psychotherapie-Richtlinie. Sie gehört damit zu den anerkannten Verfahren, die in Deutschland als reguläre psychotherapeutische Behandlung eingesetzt werden. Die systemische Perspektive stellt das individuelle Erleben nicht isoliert dar, sondern im Zusammenhang mit den Beziehungen, Rollen und Kommunikationsmustern, in denen ein Mensch lebt. Psychische Symptome werden nicht als reine „Störung“ des einzelnen Individuums verstanden, sondern als Ausdruck eines dynamischen Systems, das sich zwischen Menschen entwickelt.
Familienaufstellung
Systemische Perspektive auf Symptome und Belastungen
Ursprünglich aus der Familientherapie hervorgegangen, bezieht die Systemische Therapie Annahmen der Systemtheorie ein und betrachtet psychische Belastungen vor allem in ihren Wechselwirkungen mit dem sozialen Umfeld. Viele Symptome besitzen innerhalb eines Systems eine bestimmte Funktion – sie können Konflikte sichtbar machen, Spannungen regulieren, unbewusste Loyalitäten ausdrücken oder Rollen stabilisieren. Diese Perspektive führt zu einem grundlegend anderen Zugang: Der sogenannte Symptomträger wird nicht als alleiniger Verursacher betrachtet, sondern als Teil eines größeren Zusammenhangs, in dem sich belastende Muster herausgebildet haben.
Im therapeutischen Prozess werden diese Muster behutsam untersucht. Häufig zeigt sich, dass festgefahrene Kommunikations- und Beziehungssituationen Belastungen verstärken oder aufrechterhalten. Die systemische Arbeit schafft hier neue Möglichkeiten, indem sie alternative Sichtweisen, neue Handlungsspielräume und entlastende Strategien eröffnet. Dabei steht immer die Frage im Vordergrund, welche Funktion ein Symptom erfüllt und welche neuen, gesünderen Lösungswege an seine Stelle treten können.
in der Familientherapie
Das Genogramm als zentrales diagnostisches und therapeutisches Werkzeug
Ein zentrales instrumentelles Verfahren ist das Genogramm. Es stellt familiäre Strukturen über mehrere Generationen hinweg dar und geht weit über einen einfachen Stammbaum hinaus: Es macht emotionale Bindungen, Konflikte, Werte, Brüche, Ressourcen, Belastungen und prägende Lebensereignisse sichtbar. Dadurch entsteht ein tiefes Verständnis dafür, wie aktuelle Problemlagen entstanden sind, welche Muster sich wiederholen und wo unbewusste Erwartungen, Loyalitäten oder Themen weiterwirken. Das Genogramm dient damit nicht nur der Analyse, sondern auch der Entwicklung neuer Perspektiven und einer zugänglicheren, differenzierteren Selbstwahrnehmung.
Therapeutische Methoden und Interventionen
Weitere therapeutische Elemente sind „metaphorische“ Verfahren, zum Beispiel das Arbeiten mit Familienskulpturen oder räumlichen Darstellungen von Beziehungssituationen. Sie machen innere Bilder sichtbar und erleichtern emotionale Einsichten, die rein sprachlich schwer zugänglich wären. Ebenso gehören Reframing-Techniken, zirkuläre Fragen oder der gezielte Perspektivwechsel zu den typischen systemischen Interventionen, die es ermöglichen, bekannte Situationen aus ungewohnten Blickwinkeln zu betrachten und neue Lösungen zu finden.
Die Systemische Therapie arbeitet grundsätzlich ressourcenorientiert und ko-konstruktiv. Sie geht davon aus, dass Menschen und Systeme über versteckte Kompetenzen verfügen, die im therapeutischen Prozess aktiviert werden können. Dabei wird nicht nur auf die Entstehungsgeschichte von Symptomen geschaut, sondern vor allem auf deren Bedeutung, Funktion und Veränderbarkeit.
Anwendungsformen und Therapiekontingente
Die Systemische Therapie kann sowohl als Einzel- oder Gruppenpsychotherapie sowie auch als Kombinationsbehandlung aus Einzel- und Gruppentherapie durchgeführt werden. Darüber hinaus sind auch Settings mit meheren Personen möglich, bei denen relevante Bezugspersonen in die Behandlung einbezogen werden (z.B. bei Aufstellungen).
Die Systemische Therapie ist ein Kurzzeitverfahren: Deshalb kann sie als Kurzzeittherapie mit bis zu zweimal zwölf Therapiestunden durchgeführt werden. Die Langzeittherapie kann maximal 48 Stunden umfassen.
Wirksamkeit und Anwendungsgebiete
Zahlreiche Studien belegen die Wirksamkeit der Systemischen Therapie – insbesondere bei affektiven Störungen, Essstörungen, familiären Konflikten, psychosomatischen Beschwerden, somatoformen Störungen und Belastungsreaktionen. Sie bietet eine Perspektive, die das Individuum entlastet, weil sie den Blick auf das ganze System richtet und dadurch tiefere Zusammenhänge sichtbar macht. Ziel ist eine nachhaltige Veränderung der Beziehungen, des Umgangs miteinander und der Rolle, die Symptome im System einnehmen.
Damit fügt sich die systemische Therapie nahtlos in moderne psychotherapeutische Ansätze ein: Sie bietet einen breiten, kontextsensiblen Zugang, der sowohl psychodynamische Prozesse als auch soziale Realität berücksichtigt – und dadurch Veränderung nicht nur auf der Ebene des Symptoms, sondern im gesamten Umfeld ermöglicht.
Systemik in der praktischen Anwendung
In der praktischen Arbeit – sowohl in der psychotherapeutischen Behandlung als auch in der sozialpädagogischen Eltern- und Familienberatung – zeigt sich, dass systemisch ausgerichtete Therapeutinnen und Therapeuten besonders die Rollenfunktionen innerhalb einer Familie untersuchen. Häufig entstehen Symptome, wenn Rollen vertauscht werden, etwa wenn Kinder Verantwortung der Eltern übernehmen müssen oder unbewusst eine Partner-Ersatzfunktion einnehmen (Parentifizierung bzw. pervertierte Rollen).
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Familiengeschichte: Dabei geht es um die Frage, ob es in der Familienbiografie Verluste, „verlorene“ Angehörige, unausgesprochene Familiengeheimnisse oder transgenerationale Traumata gibt, die das System belasten und in der Gegenwart nachwirken. Ebenso wird die Funktion psychischer Symptome betrachtet – insbesondere die Rolle des sogenannten Indexpatienten. Symptome können innerhalb eines Systems eine stabilisierende Funktion übernehmen oder Spannungen sichtbar machen, sodass ein Familienmitglied ungewollt die Position des „schwarzen Schafs“ einnimmt.
Um diese Zusammenhänge besser verstehen zu können, werden in der systemischen Arbeit häufig Familienaufstellungen oder strukturelle Darstellungen genutzt. Dabei werden Beziehungen, emotionale Nähe oder Distanz, Körpersprache sowie räumliche Positionierungen der einzelnen Familienmitglieder sichtbar. So können Muster, Loyalitäten und verdeckte Konflikte differenziert verstanden und therapeutisch bearbeitet werden.
FAQ zur Systemische Psychotherapie
Für wen eignet sich die Systemische Psychotherapie?
Die systemische Psychotherapie eignet sich für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Erwachsene. Sie ist inzwischen als Richtlinienverfahren anerkannt und etabliert. Da sie teilweise aus der Familientherapie hervorgegangen ist, eignet sie sich besonders für die Arbeit mit Paaren und Familien – nicht nur für die klassische Einzel- oder Gruppentherapie.
Darüber hinaus finden systemische Methoden auch Anwendung in der Elternberatung, im Elterncoaching sowie in sozialpädagogischen Kontexten, beispielsweise zur Klärung von Rollen, Kommunikationsmustern und familiären Belastungsfaktoren (systemische Beratung)
Übernimmt die Krankenkasse die Kosten?
Ja. Gesetzliche Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Sitzungen einer systmeischen Psychotherapie als Präsenztermine aber auch als Online-Therapie. Private Kassen erstatten in der Regel ebenfalls, teils abhängig vom individuellen Tarif oder Vertrag.
Brauche ich eine ärztliche Überweisung?
Für den Zugang zur systmeischen Psychotherapie wird KEINE ärztliche Überweisung benötigt.
Wissenschaftlische und rechtliche Quellen sowie Berufs- und Fachverbände
- von Schlippe, A. & Schweitzer, J. (2014). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II: Das störungsspezifische Wissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- von Schlippe, A. & Schweitzer, J. (2016). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I: Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Neumann, K. (2015). Systemische Interventionen in der Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Couvert, B. (2024). Vererbte Geschichte: Wie psychische Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Deutscher Verband für systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung e.V.
- Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V. (DGSF)
- Bundespsychotherapeuten kammer (2024). Systemische Therapie bei Kindern und Jugendlichen ab 1. Juli Kassenleistung. Veröffentlicht am 2. Juli 2024. Verfügbar unter: https://www.bptk.de/neuigkeiten/systemische-therapie-bei-kindern-und-jugendlichen-ab-1-juli-kassenleistung/ (abgerufen am 02.12.2024).
- Berking, M. & Rief, W. (Hrsg.) (2021). Klinische Psychologie und Psychotherapie (4. Auflage). Berlin/Heidelberg: Springer Verlag.
- Levold, T. & Wirsching, M. (Hrsg.) (2023). Systemische Therapie und Beratung – Das große Lehrbuch. Bern: Hogrefe
- Bühring, P. (2020). Systemische Therapie: Viertes Richtlinienverfahren im Juli gestartet. Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe 26/2020. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/214463 (abgerufen am 02.10.2024)
